Der erfolgreichste politische Sachbuchautor …
Mehr… Deutschlands kommt nicht allein ins Erfurter Steigerwaldstadion. Bevor Thilo Sarrazin den Parksaal betritt, in dem etwa 550 Menschen auf ihn warten, haben sich mehrere Personenschützer im fußballfeldgroßen Raum postiert. Sarrazin hat in den vergangenen neun Jahren über zwei Millionen Bücher verkauft, aber für seine Bekanntheit, seinen Erfolg, seine Lust am peniblen Widerspruch zahlt er einen hohen Preis. Er wird bedroht, offen, anonym, frei bewegen kann er sich nicht mehr.
Fast drei Dutzend Lesungen hat Sarrazin in diesem Jahr schon hinter sich gebracht, in denen er sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ präsentiert. Doch die Lesung in der thüringischen Landeshauptstadt am Mittwochabend fällt aus dem üblichen Rahmen. Denn Sarrazin, gegen den inzwischen das dritte Parteiausschlussverfahren in der SPD läuft, ist von einem Sozialdemokraten eingeladen worden.
Es sei „einiges unternommen worden, um diese Veranstaltung zu verhindern“, eröffnet der Gastgeber den Abend um Punkt 19 Uhr. Als Ende März bekannt wurde, dass der sozialdemokratische Stadtrat und Landtagsabgeordnete Oskar Helmerich ausgerechnet den SPD-Außenseiter Sarrazin zu einer Wahlkampfveranstaltung einladen würde, ging die Thüringer Parteiführung sofort auf Distanz. Trotz großen Drucks sagte Helmerich den Termin nicht ab. „Ideologischer Bevormundung muss man die Stirn bieten!“, ruft er in den Saal und erntet Applaus. Dann ruft jemand: „Verräter!“
Bevor Helmerich vor drei Jahren in die SPD eintrat, war er ein führendes Mitglied der Thüringer AfD. Er verließ die Partei, weil er den rechtsradikalen Kurs von Björn Höcke nicht länger mittragen wollte. Mit der AfD verbindet ihn seitdem eine innige Feindschaft, wie auch der Zwischenruf zeigt. In der SPD halten ihn dagegen manche für ein „U-Boot der AfD“ und fordern, er möge die Partei verlassen. Helmerich, der Gastgeber, sitzt politisch zwischen allen Stühlen. Aber heute Abend geht es nicht um ihn. Die Bühne gehört Sarrazin. Seinetwegen haben die Gäste 24 Euro Eintritt bezahlt, jetzt muss er auch liefern.
Und das tut er. Sarrazin beklagt gleich in seinem Eingangsreferat, dass die Politik in Deutschland inzwischen nur noch „verdrängt, was man nicht sehen will“. Kaum ein Kritiker hätte sein Buch wirklich gelesen, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk käme er, Sarrazin, gar nicht mehr vor. Noch nie sei „eine einzige Aussage von mir rechtlich angegriffen worden“ sagt er weiter, um dann zum eigentlichen Thema des Abends zu kommen: dem Islam.
Er habe den Koran gelesen und vor allem Düsternis gefunden: Intoleranz und Gewalt. Der Islam behindere „Wissbegier und Emanzipation, Meinungsfreiheit und Demokratie“; die Verneinung des Individuellen im Islam und die Moderne seien schlicht „nicht kompatibel“. Die hohen Geburtenraten von muslimischen Frauen seien voller „demografischer Sprengkraft“, diese Religion habe bisher keinen Beitrag zu Wissenschaft und Technik geleistet. So geht das etwa 20 Minuten, am Ende von Sarrazins Vortrag bleibt vom Islam und der muslimischen Welt, in der immerhin 1,57 Milliarden Menschen leben, im Grunde nur ein Häufchen Asche übrig. „Ich kann mich ja irren“, sagt Sarrazin, „dann soll man mir halt widersprechen.“
Für diesen Widerspruch sind zwei Mitglieder der Erfurter Ahmadiyya-Gemeinde in den Parksaal gekommen, die Publizistin Maryam Hübsch und der Gemeindesprecher Suleman Malik. Man kennt diesen Schlagabtausch: Sie werfen Sarrazin vor, nur bestimmte Suren aus dem Koran zu zitieren, und betonen gleichzeitig Friedfertigkeit und den festen Willen zur Reform.
Sarrazin kontert, dass die Anhänger der in Britisch-Indien gegründeten Ahmadiyya-Bewegung ja selbst in islamischen Ländern verfolgt würden. Muslime, die sich gegen die politische Brutalisierung des Islam stemmen und ihren gesetzeskonformen Weg in säkularen Gesellschaften gehen wollen, sind für ihn eigentlich eine statistische Anomalie. Der Trend sieht anders aus, sagt er, wenn der Islam an die Macht komme, werde er zur Ideologie.
Im Grunde könnte das eine interessante Debatte werden, denn auch Sarrazin räumt ein, dass es „drei blutige Jahrhunderte“ gedauert habe, bis sich Europa von der Herrschaftsideologie des Christentums befreien oder die angestammte Religion im Abendland doch zumindest in Schach gehalten werden konnte. Aber nicht wenige im Publikum scheint dieser christliche Rückblick in die islamische Gegenwart zu überfordern.
Am Ende zeigt sich die tiefe Kluft
Wenn Hübsch oder Malik das Wort ergreifen, setzt im Parksaal sofort ein Murmelchor ein, der anschwillt, bis gebrüllt wird. „Geh doch in dein Land!“, ruft ein Erfurter Hübsch zu. Sie trägt Kopftuch, aber sie ist die Tochter eines Deutschen, wurde in Frankfurt geboren. Sie ist nicht willkommen im Steigerwaldstadion, sie wird geduldet. Sarrazin ermahnt das Publikum, die Beiträge seiner Kontrahenten „jetzt einfach mal auszuhalten“. Es klingt gönnerhaft.
Auch Wolfgang Tiefensee, der Chef der Thüringer SPD, ist im Saal. Aufs Podium will er nicht. In einer zehnminütigen Rede betont er, was alle längst wissen: Das hier sei keine Veranstaltung der SPD. Sarrazin sei ein „sehr intelligenter Mann“ (Beifall), aber man müsse doch darüber nachdenken, „was aus seinen Thesen folgt, wo das hinführt“ (Buh-Rufe).
Andere gehen ohne Buch nach Hause. Am Ausgang hat die Ahmadiyya-Gemeinde einen Info-Stand aufgebaut, junge Muslime verteilen „Fakten und Argumente“ zum Thema Islam, „eine Antwort auf die Vorwürfe der AfD“. Suleman Malik sagt, es seien auch Antworten auf Sarrazin. Manche Besucher packen die Broschüre ein, sie kostet nichts. Andere werden wütend: „Ihr verseucht mit euren Moscheen unser ganzes Land“, brüllt ein älterer Herr einen jungen Muslim an, der die Heftchen verteilt. „Sie sind ja radikal!“, gibt der zurück. Der Mann baut sich drohend auf, ein Freund zerrt ihn aus dem Stadion, „bringt doch nix!“. Beim Rausgehen ruft der Deutsche dem Muslim noch zu: „Man sieht sich im Leben immer zwei Mal!“
Es klingt nicht wie die Verabredung zum Dialog. Oskar Helmerich glaubt, es wäre eine erfolgreiche Veranstaltung gewesen.
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