… französischer Islamforscher, meint:
Mehr[…]
Das Chaos, das wir derzeit in Frankreich erleben, ist eine Folge von unterschiedlichen gesellschaftlichen Brüchen, die sich alle überlagern. Bei den gewalttätigen Demonstrationen haben sich zwei soziale Gruppen vermischt: einerseits die untere Mittelschicht, die „weiß“ und verarmt ist und von den Gelbwesten verkörpert wird.
Auf der anderen Seite haben das junge Leute aus den Problemvorstädten ausgenutzt, um Geschäfte zu zerstören, auszuplündern oder Autos anzuzünden – ganz so wie 2005 bei den Aufständen in den banlieues. So entstand ein Klima sozialer Gewalt und ein Kontrollverlust des Staatsapparates, was Dschihadisten jetzt die Möglichkeit gibt, einfacher zuzuschlagen.
[…]
Man darf nicht vergessen, dass der Aufstand der Gelbwesten ausgelöst wurde von einer Erhöhung der Benzinpreise und Steuern; hinzu kommen die Fluktuationen der Benzinpreise auf dem Weltmarkt. Die Revolte der unteren, verarmten Schichten, die die politische und soziale Situation überall in Europa bestimmt, ist aber auch geprägt von den großen Flüchtlingsströmen, die wegen der Bürgerkriege nach dem „arabischen Frühling“ zu uns kamen.
Das hat den Siegeszug Matteo Salvinis in Italien und den Einzug der AfD in den Bundestag möglich gemacht. Bei den Gelbwesten kann man jetzt eine neue Koalition von Rechts- und Linkspopulisten beobachten. Die Bewegung hat noch keinen direkten politischen Ausdruck gefunden, weil kein wirklicher Anführer der Gelbwesten hervortritt; weder Marine Le Pen noch Jean-Luc Mélenchon können die Bewegung für sich vereinnahmen.
Wenn diese chaotische Lage aber weiter anhält und der Dschihadismus dabei Trittbrettfahrer wird, dann ist zu befürchten, dass die Europawahlen im Mai 2019 zu einem spektakulären Sieg der Extreme führen werden.
[…]
Welt: Haben wir uns getäuscht über den Charakter des „arabischen Frühlings“?
Kepel: Ja, komplett. Wir haben eine digitale Revolution begrüßt und geglaubt, dass sich die Demokratie in den arabischen Ländern durchsetzen würde. Wenige Jahre später hatten wir das Kalifat des Islamischen Staates und die Attentate in Europa. Dabei haben Arabien-kundige Forscher wie ich ab 2005 längst eine dritte Generation von Dschihadisten ausgemacht, die dann von dem Zusammensturz der Systeme profitiert und ihre eigene Agenda gesetzt hat.
Doch die Pseudophilosophen haben sich mit ihrer Sichtweise durchgesetzt. Sie wollten nicht wahrhaben, dass es sich um eine Radikalisierung des Islam handelte. Diesen Fehler haben wir teuer mit den Attentaten bezahlt.
WELT: Sie beschreiben drei Phasen des Dschihadismus und behaupten, dass jedes Mal, wenn eine Organisation am Ende war, eine neue entstand. Seit dem Sturz der syrischen Stadt Rakka vor einem Jahr scheint die Terrororganisation IS am Ende. Wird es eine vierte Phase geben?
Kepel: Die Dschihadisten sind nach wie vor ideologisch hoch motiviert. Aber sie müssen ihre Strategie anpassen, weil die alte nicht mehr funktioniert. Schwer zu sagen, ob und wie ihnen das gelingen wird. Wir beobachten ihre Aktivitäten im Netz und in den Gefängnissen. Bislang gibt es keine neue Phase.
Aber unser Justizsystem war sehr streng und hat die meisten zu langen Haftstrafen von bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Damit ist das Problem nur in die Zukunft verschoben worden. Die ersten kommen jetzt aus den Gefängnissen, was uns Anlass zu großer Sorge geben sollte.
[…]
Der Terror in Europa hat uns alle traumatisiert und das Bewusstsein einer weltweiten Bedrohung geschaffen. Allerdings kommt die Erkenntnis, dass wir eine Mitschuld tragen, ziemlich spät.
Verantwortlich dafür ist unter anderem Barack Obama und ein Teil der europäischen Staatschefs, die sich auf Anraten der Katarer und Türken eingebildet haben, dass eine gütliche Einigung mit den Muslimbrüdern eine Lösung darstellt, nur weil diese prowestlich und prokapitalistisch sind. Man darf nicht vergessen, dass Obama die Wahl von Mohammed Mursi in Ägypten begrüßt hat. Auch die Türkei galt zu diesem Zeitpunkt als Vorbild.
Man hatte sich tatsächlich eingebildet, dass es sich in der Türkei um eine Art islamische Demokratie handele, vergleichbar mit einer christlichen Demokratie. Durch das Atomabkommen mit dem Iran ist es zu einer geschlossenen Front gegen den sunnitischen Terrorismus gekommen, und der IS wurde zum Hauptgegner erklärt.
[…]
WELT: Macht der Westen derzeit wieder Fehler, die er eines Tages bereuen wird?
Kepel: Niemand will sehen, dass der Schlüssel zur Lösung der Probleme im Nahen Osten liegt. Wir brauchen eine proaktive europäische Außenpolitik, die nicht an den Fersen der Russen und Türken hängt. Aber das ist problematisch, weil alle ihre Souveränität der EU überlassen haben, die keine Außenpolitik hat. Auch wenn Angela Merkel zum ersten Mal einräumt, dass es eine europäische Armee braucht.
Doch genau in dem Augenblick, da wir mehr denn je ein reformiertes, vereinigtes und zentralisiertes Europa brauchen, werden die Populisten vermutlich sehr gut abschneiden. Das wird es immer schwieriger für einzelne Staaten machen, außenpolitisch Einfluss zu nehmen.
Der Auszug aus dem Interview wurde so angelegt, dass Herrn Kepels Aussagen, die selbsterklärend sind, ohne Frage zitiert wurden.
_______________________________
Artikel zum Sonntag 23.12.2018, Teil 1: Hier klicken
Artikel zum Sonntag 23.12.2018, Teil 2: Hier klicken
_______________________________