[…] Auch künftig ist jede Zurückweisung von Schutzsuchenden ausgeschlossen, unabhängig davon, ob der Richtwert von 180.000 bis 220.000 erreicht oder schon weit überschritten ist. Forderungen der CSU und auch einiger CDU-Politiker nach einer Obergrenze, ab der weitere Schutzsuchende zurückgewiesen würden, waren schon im Migrationskompromiss der Union im Oktober beerdigt worden.
Ebenso die etwas gemäßigtere Forderung einzelner Unionspolitiker, die ab einer bestimmten Anzahl beispielsweise allein reisende Männer ohne Identitätsdokument oder solche aus bestimmten Staaten mit sehr niedriger Anerkennungsquote zurückweisen wollten.
Letztlich ist diese Entscheidung für eine potenziell unbegrenzte Zuwanderung von Schutzsuchenden eine politische. Sie wurde von der CDU-Führung und der SPD auf dem Höhepunkt der Migrationskrise aus Rücksichtnahme auf die Stabilität der EU getroffen, an der auch weiterhin nicht gerüttelt wird.
Doch die juristische Begründung der Bundesregierung für diese weitreichende Entscheidung ist bis heute umstritten. Sie lautet kurz zusammengefasst: Nach dem Grund- und dem Asylgesetz sind Zurückweisungen von Schutzsuchenden zwar möglich, diese Paragrafen seien aber vom EU-Recht „überlagert“.
Konkret geht es um die Dublin-Verordnung: Diese interpretieren Bundesregierung und viele Juristen so, dass Deutschland jeden Schutzsuchenden erst einmal einreisen lassen muss, um zu prüfen, welcher Staat für ihn zuständig ist. In der Regel müsste das der Erstaufnahmestaat sein, falls die Dublin-Verordnung von allen Mitgliedstaaten weitgehend eingehalten würde.
Praktisch reisen fast alle Schutzsuchenden aus dem Erstaufnahmestaat weiter, Deutschland prüft dann durch Gespräche und Fingerabdrücke, welche Route die Migranten genommen haben, und versucht gegebenenfalls, den Ankömmling in den zuständigen Staat zurückzubringen. Dagegen kann sich jedoch dieser Staat wehren und der Migrant klagen – mit dem bekannten Ergebnis, dass meist die Überstellung nicht klappt und die meisten einmal Eingereisten dauerhaft in Deutschland bleiben.
Gegen diese Auffassung der Bundesregierung, auf Zurückweisungen mit Rücksicht auf EU-Recht zu verzichten, wenden sich seit dem Höhepunkt der Migrationskrise bis heute namhafte Kritiker: vom ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier, über den ehemaligen Verfassungsrichter Udo Di Fabio bis zu renommierten Professoren für Ausländerecht.
Aus deren Ausführungen lassen sich schematisch drei juristische Argumentationslinien skizzieren, die allerdings in der Praxis immer gemischt und nicht in Reinform vertreten werden: Zum einen sei die Dublin-Verordnung nicht derart hoch anzusiedeln, dass sie deutsches Recht und das Grundgesetz überlagert, sprich aushebeln, dürfe. Laut der zweiten Begründung sei die Dublin-Verordnung als EU-Recht zwar höher anzusiedeln als nationale Gesetze, aber erlaube Zurückweisungen.
Zum Dritten sei die Dublin-Verordnung höher anzusiedeln als nationale Gesetze und verbiete Zurückweisung – aber wenn die Verordnung dauerhaft systematisch nicht funktioniere und von vielen Ländern missachtet werde, müsse sich Deutschland auch nicht mehr daran halten. Dann könne es wieder seine Gesetze anwenden.
Die Verwaltungsrichterin Nicola Haderlein vertritt in ihren einschlägigen Publikationen eine Mischform aus Argument zwei und drei. Im Gespräch mit WELT fasst sie zusammen: „Die Bundeskanzlerin vermittelt der Bevölkerung, sie müsse jeden Schutzsuchenden nach Deutschland einreisen lassen. Das Gegenteil entspricht geltendem europäischem und deutschem Recht.“
Das Konzept der sicheren Drittstaaten, von denen die Bundesrepublik ausnahmslos umgeben sei, führe dazu, dass allein die Durchreise durch einen solchen Drittstaat zur Einreiseverweigerung berechtigt. Dies folge aus Paragraf 18 des Asylgesetzes („Dem Ausländer ist die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat einreist“). Aus dessen Wortlaut ergebe sich nicht nur die Zulässigkeit der Zurückweisung an der Grenze und im grenznahen Raum, sondern sogar die Verpflichtung hierfür.
Kontrast zwischen Theorie und Praxis
Haderlein reagiert auf die Argumentationslinie der Bundesregierung: Zwar müsse Deutschland von der Einreiseverweigerung absehen, wenn es aufgrund von Rechtsvorschriften der EU zuständig werde (Paragraf 18 Absatz 4 des Asylgesetzes). Damit ist die Dublin-Verordnung gemeint. Doch die Einreise darf aus Haderleins Sicht verweigert werden, wenn Beweise oder Indizien dafür sprechen, dass „ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend, die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat“. Dann ist laut Artikel 13 der Dublin-Verordnung ein anderes Land zuständig.
Diese Voraussetzungen sind laut Haderlein, „bei allen an Deutschlands Grenzen ankommenden Schutzsuchenden offenkundig erfüllt“. Die „mutwillige Nichtanwendung“ der Dublin-Verpflichtungen durch mehrere Mitgliedstaaten könne und dürfe nicht „die rechtliche Zuständigkeit Deutschlands in all diesen Fällen begründen“, sagt Haderlein.
Der Konstanzer Ausländerrechtler Kay Hailbronner problematisiert hingegen im Gespräch mit WELT den Kontrast zwischen Theorie und Praxis des europäischen Asylrechts. In der Dublin-Verordnung sei zwar „nicht ausdrücklich ausgeführt, dass ein Staat ohne Prüfung zurückweisen darf“. Weil aber die „Mehrheit der Migranten ungeachtet der Zuständigkeitsregel weiterreisen“ und somit „die Ausnahme von der Regel zur Regel wurde“, habe „die Bundesregierung das Recht, von Zurückweisungen Gebrauch zu machen“.